Mobbing: Ein Spiel? Eine dialektische Erörterung

Geschwurbel von Daniel Schwamm (25.07.1994)

Inhalt

1. Merkmale politischer Situation

Bei Mikropolitik geht es nicht um Kooperation oder auch nur die Verfolgung von Sachzielen, sondern um den Einsatz von Macht, um eigene Interessen durchzusetzen. Mikropolitik ist an situative Gegebenheiten gebunden, die ihre Entfaltung erst erlauben. In dieser Arbeit wollen wir betrachten, in welcher Situation Mobbing stattfindet.

Nötige Bedingungen für Mobbing bzw. politisches Handeln sind:

  • Ambiguität: Die Situation ist mehrdeutig.
  • Zeitabhängigkeit: Mobbing verlangt gutes Timing, um voll wirken zu können.
  • Subjektivität: Mobbing betrifft Subjekte, nicht Rollen.
  • Interessengeladenheit: Eigeninteresse dominiert, nicht das Gemeinwohl.
  • wechselseitige Abhängigkeit: Täter und Opfer brauchen einander. Der Täter das Opfer, um es zu schikanieren, das Opfer den Täter, um an die von ihm verwalteten Ressourcen zu kommen.
  • Legitimationsbedarf: Aus taktischen Gründen versuchen die Akteure Lücken im (formalen) System zu nutzen, um ihre mikropolitischen Aktionen legitimieren zu können. Häufiger Vorwand: Man wollte ja nur die rechte Ordnung wieder herstellen.
  • Machtorientierung: Man möchte Situationen der Ungewissheit kontrollieren. Sie warten nicht ab, sondern sind aktiv, eben Täter.

2. Die Spiele-Metapher

Die oben aufgeführten Merkmale zu integrieren, das gelingt dem Begriff "Spiel", der hier metaphorisch gebraucht wird - Mobbing ist kein Spiel, sondern wird hier nur als solches betrachtet. Es herrscht nicht inhaltliche, sondern strukturelle Identität. Die Spiele-Metapher soll dabei helfen, das Geschehen des Mobbings in Organisationen zu charakterisieren. Spiele zeichnen sich durch folgende nicht zwingende Merkmale aus:

  • Freiwilligkeit der Teilnehmer: Man kann aussteigen, wenn man will. Dies gilt allerdings für viele Wettkampfspiele nicht, wie z.B. beim Fussball, bei dem man gezwungen ist, zu Ende zu spielen, obwohl es keine Gewinnchancen mehr gibt.
  • Identifikation des Spiels: Das Spiel gibt sich als solches zu erkennen, z.B. durch seine Spielregeln, die jedermann bekannt sind.
  • Identifikation der Spieler: I.d.R. wissen die Akteure eines Spieles, wer Zuschauer, wer Spieler in welcher Rolle und wer Schiedsrichter ist.
  • Regelstabilität und Regelbefolgung: Im Allgemeinen wird die Einhaltung der Regeln verlangt. Beim Fussball u.ä. Spielen deuten "Fouls" an, dass versucht wird, diese Regeln auszuhöhlen, in der Hoffnung, dabei nicht erwischt zu werden.
  • Chancengleichheit: Die Chancengleichheitsforderung gilt nur für wenige Spiele. I.d.R. ist es legitim oder macht gerade den Reiz des Spiels aus, von vorneherein die "besseren Karten" zu haben.
  • Gewinner und Sieger: Nicht alle, aber die meisten Spiele betonen, wer am Ende als Gewinner und Verlierer dasteht.
  • Anfang und Ende: I.d.R. beginnen Spiele zu einem festen Zeitpunkt und ende zu einem ebensolchen. Zwischen Realität und Spiel wird deutlich getrennt.
  • Verlaufsfreiheit: Ausgang und Verlauf des Spiels stehen nicht von Anfang an fest. Häufig fliessen Zufallselemente in das Spiel ein, wie z.B. die Karten beim Poker. Das bringt die Spannung ins Spiel.

3. Thesis: Mobbing ist ein Spiel

Die Spiele-Metapher betont die Bedeutung von Kreativität, Freiheit, Improvisation, Zufall, individuelle Interessen und die Eigendynamik des Geschehens von Mobbing, die auch dazuführen kann, dass Regeln verletzt, verdreht und ausgehöhlt werden, das Meta-Spiel aber dennoch weitergeht. Das Meta-Spiel heisst beim Mobbing eigentlich "Arbeiten in Organisationen". Die äusseren Rahmenbedingungen, die dieses Meta-Spiel dabei vorgibt, sind:

  • Fremdbestimmung.
  • Zeitregime.
  • Verhaltens- und Kleiderreglement.
  • Leistungsforderung.
  • Ressourcenknappheit.
  • Unpersönlichkeit überkreuzt sich mit Freundschaften.

Spiele beinhalten wie Mobbing Freiheit und Zwang. Die Regeln sind nicht endgültig festgelegt, weil ihre Änderung Teil des Spiels ist. Dadurch ist der Spielverlauf offen. Es gibt ausserdem beim Mobbing Opfer und Täter, also Verlierer und Sieger. Das Ende des Spiels ist der Ausschluss des Opfers aus der (direkten) Arbeitsgemeinschaft.

4. Antithesis: Mobbing ist kein Spiel

Viele der oben aufgeführten Spiele-Merkmale scheinen auf Mobbing nicht zuzutreffen. Im Einzelnen:

  • Freiwilligkeit der Teilnehmer: Besonders die Opfer werden gezwungen, am Mobbing teilzunehmen.
  • Identifikation des Spiels: Die Betroffenen merken beim Mobbing häufig überhaupt nicht, was mit ihnen "gespielt" wird, und dass sie von Anderen instrumentalisiert werden.
  • Identifikation der Spieler: Beim Mobbing geben sich die Täter oft nicht zu erkennen. Sie sägen heimlich am Stuhl des Nachbarn.
  • Regelstabilität und Regelbefolgung: Was verboten oder erlaubt ist, steht beim Mobbing nicht fest. Selbst die unfairsten Taktiken finden hier Verwendung.
  • Chancengleichheit: Die Mobbing-Opfer besitzen keine Trümpfe; sie sind ohne jede Chance.
  • Gewinner und Sieger: Der Preis für den Gewinner oder Verlierer ist unklar. Dennoch gibt es i.d.R. Täter und Opfer. Dieses Merkmal wird also vom Mobbing erfüllt.
  • Anfang und Ende: Anfang und Ende sind beim Mobbing nicht vereinbart.
  • Verlaufsfreiheit: Verbindliche Regeln existieren nicht beim Mobbing. Dieses Merkmal wird vom Mobbing erfüllt.

5. Synthesis: Vom Nutzen, Mobbing als grausames Spiel zu sehen

Bevor wir uns den Nutzen der Interpretation des Mobbings als Spiels zuwenden, wollen wir einige Lockerungen am Spiele-Konzept vornehmen, die es rechtfertigen, Mobbing als Spiel zu charakterisieren.

  • Freiwilligkeit der Teilnehmer: Muss nicht gegeben sein für Spiele.
  • Identifikation des Spiels: Nicht während des Verlaufs, jedoch im Nachhinein können Mobbing-Teilnehmer ihre Teilnahme am Mobbing erkennen oder vermittelt bekommen.
  • Identifikation der Spieler: Auch die Mobbing-Täter bzw. -Opfer werden im Nachhinein erkennbar.
  • Regelstabilität und Regelbefolgung: Die Stabilität der Regeln ist beim Mobbing ihre Instabilität. Zudem gibt das Meta-Spiel "Arbeiten in Organisationen" Meta-Regeln vor, die allgemeingültig sind: Die Legitimation des Handelns ist wichtig, und ebenso sind physische Angriffe tabu. Strukturen sind uminterpretierbar; so wird z.B. aus "Rücksichtslosigkeit" schnell "Durchsetzungskraft".
  • Chancengleichheit: Diese ist nicht unbedingt erforderlich für Spiele.
  • Gewinner und Sieger: Beide sind gegeben beim Mobbing.
  • Anfang und Ende: Wann das Mobbing-Spiel genau beginnt, wissen die Teilnehmer nicht. Sie wissen aber, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte, nur interpretieren sie es zunächst falsch.
  • Verlaufsfreiheit: Dieses Merkmal von Spielen ist gegeben beim Mobbing.

Mit dieser Ausweitung des Spiele-Konzepts, dass alle seine notwendigen Merkmale erst im Nachhinein zu erkennbar sind, lässt sich die Metapher des Spiels auf Mobbing anwenden. Um dem Ausdruck etwas von seiner Fairness, Verspieltheit und Spasshaftigkeit zu nehmen, obwohl viele Spiele alles andere als fair, locker oder lustig sind und dennoch als Spiele bezeichnet werden, z.B. die Olympischen Spiele, neigen wir dazu, Mobbing als grausames Spiel zu titulieren. Mit dieser Charakterisierung sind die folgenden Vorteile verbunden:

  • Auflistungen von Mobbing-Handlungen sind nicht möglich. Es ist Teil des Spiels, dass der Spielverlauf genauso offen ist wie sein Ausgang.
  • Das Spiele-Modell fordert zur Differenzierung zwischen Mobbing-Handlungen (schwach anreden), Mobbing-Taktiken (intrigieren) und Mobbing-Strategien (isolieren und blossstellen) auf.
  • Das Spiele-Modell betont, dass hier Subjekte gegeneinander agieren.
  • Das Spiele-Modell zeigt, dass Opfer und Täter so eindeutig nicht bestimmbar sind. Genauso gut könnte vom Spiel her das Opfer der Täter sein.
  • Es werden meistens mehrere Mobbing-Spiele gespielt. Das Spiele-Modell legt nahe, dass man gut daran tut, sich schnell bezüglich dieser Spiele zu informieren, um seine Karten richtig ausspielen zu können.
  • Durch das Spiel selbst verändert sich die eigene Spielfertigkeit.
  • Die Spiele-Metapher zeigt auf, dass man beim Mobbing in Zugzwang geraten kann, wenn man nicht aufpasst - und dann Dinge tun muss, die man so nicht gewollt hat.
  • Hilft bei der Gegenwehr. Aus vielen Spielen weiss man, dass Bündnisse mit anderen Spielern Punktevorteile mit sich bringen können.
  • Das Spiele-Modell kann angesichts des internationalen Spiele-Phänomens dazu dienen, ebenso wie Aggressionstheorien, Mikropolitik, Machttheorien, Sozialdarwinismus und Labeling (Brandmarkung) das Vorhandensein von Mobbing zu erklärten.
  • Der Spiele-Charakter erleichtert einem vielleicht die Anwendung von Mobbing, was ja durchaus auch funktionale Effekte für die Organisation mit sich bringen kann (z.B. das Aufbrechen des Korsetts der Arbeitsorganisation).
  • Mobbing besteht wie viele Spiele aus mehreren Läufen. Auch dadurch sind Opfer und Täter nicht immer gleich zu identifizieren.
  • Hilft vielleicht, die Positionen des Gegenspielers besser zu verstehen. Was jemand als unfair empfindet, sieht der Andere vielleicht als "hart, aber gerecht" an.