Organisatorische Führung
Geschwurbel von Daniel Schwamm (13.06.1994)
Inhalt
Ein paar mögliche Führungsdefinitionen:
- Führung heisst Unsicherheitsreduktion.
- Führung heisst, Strukturen in Interaktionen bringen.
- Führung heisst, Herrschaft durch Motivierung der Geführten durchsetzen.
Führung ist ein soziales Geschehen, das auf folgende Arten entschlüsselt werden kann:
-
personalisierte Perspektive: Der Führer wird hier als Mann der Tat verstanden.
Die theoretische Basis dazu liefert die Eigenschaftstheorie, die besagt, dass
es von nicht erlernbaren Persönlichkeitseigenschaften abhängt, ob jemand Führer
oder Geführter ist. Aristokratisch-ideologisch wird behauptet, dass dem Führer,
dadurch, dass er anders ist als die Geführten, ein Anspruch auf Gehorsam erwächst.
Es gilt dann allerdings auch gleichzeitig, dass er die Verantwortung für sein
Tun zu übernehmen hat.
-
demokratische Perspektive: Der Führer wird nach dieser Ansicht von den Geführten
selbst erst zum Führer gemacht. Daraus erwächst ein Bewährungsdruck für den Führer,
denn er kann abgesetzt werden - und jeder andere kann ebenso die Führung erlernen wie
er, und sie daher auch übernehmen. Zudem ist der Führer hier üblicherweise nur auf
Zeit eingesetzt und muss sich dann einer neuen - politischen - Wahl stellen.
-
funktionelle Perspektive: Der Führer greift in einer Art "Management by
Exception"-Manier nur dann ins Geschehen ein, wenn es unbedingt erforderlich ist.
Er hat damit bloss die Funktion eines "System-Harmonisierers", eines Funktionärs also,
der das System am Laufen hält. Die Geführten als solche gibt es nicht, sondern nur
Funktionsträger. Der Führer hat im Vergleich zu ihnen eigentlich nur eine leicht
abgewandelte Funktion, die zudem eher abhängig ist von den Organisationsstrukturen,
als von ihm selbst.
Es lassen sich drei Dimensionen der Führung bestimmen:
-
die soziale Dimension: Führung hat etwas mit Ideologie, Politik und
Organisationsstrukturen zu tun. Die oben genannten Perspektiven der Führung
beachten daher in jedem Fall hauptsächlich die soziale Dimension der Führung.
-
die personale Dimension: Führung wird von einem Menschen betrieben,
dessen Handeln schwer zu operationalisieren oder auch nur abzuschätzen
ist. U.a. haben Menschen beispielsweise ein Gewissen und eigene Ziele; sie
sind politische Wesen.
-
die technische Dimension: Führung hängt zusammen mit Instrumenten wie
z.B. Planung, Kommunikationsmittel u.ä., die jedem zur Verfügung stehen können.
Die Situation, in der sich ein Führer befindet, beeinflusst seinen Führungsstil.
Wird eine Übereinstimmung, ein sogenannter Fit, zwischen Situation und Führungsstil
gefunden, dann resultiert daraus Erfolg. Laut der Entscheidungstheorie gibt es also
nicht den einen optimalen Führungsstil für alle Situationen, sondern nur einen
situationsbedingt optimalen Führungsstil. Um also den gesuchten Fit finden zu
können, geben Vroom und Yetton einen Entscheidungsbaum vor, bei dem die folgenden
Ja-Nein-Fragen zu beantworten sind:
- Ist die Qualifikation wichtig?
- Sind genügend Entscheidungsinformationen vorhanden?
- Ist das Problem strukturiert?
- Ist die Akzeptanz wichtig?
- Wird auch eine Alleinentscheidung akzeptiert?
- Werden die Organisationsziele von den Mitgliedern verfolgt?
- Sind Konflikte wahrscheinlich?
Am Ende des Entscheidungsbaumes wird jeweils eine der folgenden Führungsstile
empfohlen:
- autoritärer Führungsstil.
- autoritärer Führungsstil, aber Informierung der Betroffenen.
- Befragung von einzelnen Mitgliedern vor der Entscheidung.
- Befragung aller Mitglieder vor der Entscheidung.
- Gruppenentscheidungen.
Würdigung:
- Positiv: Normativ, praktisch und transparent.
-
Negativ: Das Zustandekommen des Entscheidungsbaumes wird nicht erklärt;
das Vorgehen basiert auf subjektiver Einschätzung der Situation; keine
Schulung der Führungsstile, aber Kenntnis bedeutet nicht Können; Führung
wird zum automatisierten Prozess; die partizipative Führung ist überbewertet,
denn die autoritäre Führung wird nur bei Zeitknappheit zugelassen.
Führung wird hier nur unter Effektivitätsaspekten betrachtet; Arbeitszufriedenheit
und Moral oder Ähnliches spielen keine Rolle. Ob Führung effektiv ist, hängt dabei
ab von:
-
dem Führungsstil: Dieser gilt hier als dauerhafte Persönlichkeitseigenschaft,
die über eine etwas zweifelhafte Methode erhoben wird. Der Vorgesetzte beurteilt
nämlich seinen Führungsstil, indem er ein Polaritätsprofil von seinem schlechtesten
Mitarbeiter erstellt. Durch Summation der ermittelten Werte erhält er den sogenannten
"Leader Match Concept"-Wert (LPC), der ihm sagen soll, ob er eher aufgabenorientiert
oder eher beziehungsorientiert führt.
-
der Günstigkeit der Situation: Dazu ist das Arbeitsklima zu ermitteln,
z.B. durch Profile, die der Vorgesetzte über Gruppen anfertigt. Auch die
Aufgabenstruktur sowie die Positionsmacht des Vorgesetzten wirken in die Situation
hinein. Nach der Kontingenztheorie F.E. Fiedlers gilt die Hypothese: Bei schlechten
oder guten situativen Gegebenheiten sollte auf eine aufgabenorientierte Führung
zurückgegriffen werden, ansonsten eher auf eine beziehungsorientierte Führung.
Fazit: Da der Führungsstil der Führer nicht änderbar ist, müssen die
Führer nach Situation eingesetzt werden, d.h., eine andere Situation erfordert
womöglich einen anderen Führer. Es ist also ein Fit zwischen Person und Situation
herzustellen (und damit indirekt wieder ein Fit zwischen Führungsstil und Situation).
Das Leader-Match-Concept beinhaltet das Gleiche wie die Kontingenztheorie von
Fiedler, allerdings in kompaktierter, formelhafter Form für die Praxis. Darin
sind auch Tipps enthalten, wie Führer die Situation ändern können, um sie so
ihrem eigenen Führungsstil gerecht werden zu lassen.
Würdigung:
-
Negativ: Ein eigenschaftsorientierter Ansatz, der durch den Situationsgedanken
nur verschleiert wird; der Führungsstil ist de facto nicht konstant, sondern schwankt;
nur der Führungsstil wird als Führerqualität beachtet (die Führung ist aber
mehrdimensional zu sehen); die Qualifikation der Geführten wird vergessen; die
Kontingenz-Hypothese konnte vielfach widerlegt werden; keiner weiss so recht, was
der LPC-Wert misst - den Führungsstil jedoch bestimmt nicht.
Auch W.J. Reddin unterscheidet verschiedene Führungsstile, die bei bestimmten
Situationen zu bevorzugen sind:
- beziehungsorientiert Führung: am effektivsten bei Forderern.
- integrative Führung: am effektivsten bei dynamischen Führern.
- sich heraushaltende Führung: am effektivsten bei Bürokraten.
- aufgabenorientierte Führung: am effektivsten bei Autokraten.
Würdigung:
-
Negativ: Auch hier wird nur die eine Dimension des Führers betrachtet,
nämlich sein Führungsstil (erste Dimension); die beiden anderen Dimensionen
sind Situation und Effektivität, wobei die Situation bestimmt wird von den
Vorgesetzten, den Kollegen, den Organisationsstrukturen und den Arbeitsinhalten.
Dieser Ansatz gleicht der 3-D-Theorie von Reddin. Wie dort beschrieben gibt es
vier verschiedene Führungsstile, jedoch wird die Dimension der Situation
weitgehend von der Qualifikation (Reife) der Mitarbeiter bestimmt. Es gilt: Je
reifer die Geführten sind, desto weniger müssen sie geführt werden, desto weniger
aufgabenorientiert und desto beziehungsloser kann die Führung durch die Führer
sein, d.h. letztlich, der Vorgesetzte wird zum reinen Delegierer.
Würdigung:
-
Negativ: Verengt die Situation auf den Reifegrad der Geführten; vertritt die
illusorische Harmonie-These, nach der autonome (reife) Mitarbeiter von ganz alleine
die Organisationsziele verfolgen würden.
Nach diesen Ansätzen wird die Führung nur unter dem Aspekt psychologischer Effekte
beleuchtet. Die Führung wird dabei als zielorientierte Beeinflussung von Menschen
interpretiert.
Der Weg-Ziel-Ansatz gehört zur Gruppe der Erwartungsvalenz-Theorien, befasst sich
also mit den Erwartungen von Geführten, die es zu ermitteln gilt. Die Erwartungen
werden bestimmt von den Bedürfnissen der Menschen, die sich in einem Drang zum
Führen oder Geführtwerden ausdrücken. Die Motivation fragt nach dem Warum von
Handlungen bzw. Entscheidungen. Der Weg-Ziel-Ansatz glaubt in gleicher Weise wie
die ökonomischen Entscheidungstheorien an das Rationalitätskonzept, das allen
Entscheidungen zugrunde liegen soll. Die Entscheidungsregel des Weg-Ziel-Ansatzes
ist die Maximierungsregel. Der Entscheider handelt also stets so, dass ihm der
grösste Nutzen daraus erwächst.
Die Aufgabe des Führers nach dem Weg-Ziel-Ansatz ist es nun, die Bedürfnisse der
Geführten herauszubekommen, ihre Ziele zu erheben, um ihnen so einen Weg vorgeben
zu können, diese ihre Ziele mit denen der Organisation zu verbinden. Damit kann er
wesentlich detailreichere Einflussmassnahmen treffen, als wenn er sich nur auf
globale Massnahmen wie Kündigungsandrohung, Beförderungsversprechen und
Einkommensteigerung verlassen müsste.
Würdigung:
-
Negativ: Ein individualisierender Ansatz, weil nur einer entscheidet;
Wege und Ziele der Geführten sind kaum je zu erfahren; Entscheidungen sind oft
nicht rational (irrational, gewohnheitsmässig, triebhaft, unbewusst), das Modell
liefert aber nur ein Bezugssystem für rational Handelnde; selbst wenn Wege und
Ziele der Geführten bekannt sind, garantiert dies keinen optimalen Führungsstil.
Als Führer wird bei diesem Ansatz nur derjenige akzeptiert, der dem Bild eines
Führers einer Gruppe entspricht. Diese Theorie hat demnach ein demokratisches
Führungsbild. Die Attribute des Führers bestimmen, ob er sich für eine bestimmte
Aufgabe eignet, wobei diese Attribute nicht fix in der Person verhaftet sind,
sondern durchaus auch gelernt werden können. Die soziale Wahrnehmung entscheidet,
ob sich jemand als Führer einer Gang oder eines Industriezweigs eignet. Führung
wird oft benötigt als personalisierte Instanz für einen Erfolg bzw. Misserfolg.
Anders als die Great-Man-Theory besitzt der Führer hier seine Qualitäten nicht
von Geburt an, sondern muss bzw. kann sie von den Geführten zu- bzw. aberkannt
bekommen.
Würdigung:
-
Positiv: Die Geführten, ihre Qualifikation und die zu bewältigende Aufgabe
finden Berücksichtigung; Führung wird nicht eindimensional auf den Führungsstil
begrenzt gesehen.
Die Eigenschaftstheorien (wie z.B. die Great-Man-Theory) behaupten, dass
nur einigen wenigen Menschen gewisse Führereigenschaften angeboren sind. Dieser
aristokratisch-ideologischen Führungssicht schwebt also ein Bild von stilisierter
Männlichkeit vor Augen: Selbstbewusstsein, Entscheidungsfreude, Aktivität usw.
machen jemanden quasi automatisch zum geborenen Führer. Diesen Führerpersönlichkeiten
wird dabei allerdings oft mehr Einfluss zugebilligt, als ihnen eigentlich zusteht.
Dies geschieht z.B. regelmässig bei der Beschreibung von Geschichtsepochen,
die gerne an grossen Namen und deren Aktionen festgemacht werden. Aber so gut
wie nie haben diese "grossen Männer der Geschichte" auch tatsächlich Entscheidungen
in souveräner Autonomie treffen können.
Es existieren tatsächlich Zusammenhänge zwischen Eigenschaften der Führer und dem
Erfolg der Führung, jedoch nur schwache. Denn Eigenschaften sind abhängig von
Situationen, wie z.B. Kollegen, Aufgaben u.ä. Die Great-Man-Theory gilt daher
als überholt, jedoch erlebt sie aktuell eine Renaissance, und zwar in Form von
Assessment-Center. Dort werden die folgenden Programme durchgeführt:
- Zweistunden-Interviews.
- den Postkorb eines Vorgängers in drei Stunden abarbeiten.
- diverse Gruppenaufgaben lösen.
- eine Selbsteinschätzung abliefern.
Externe Beobachter schätzen den Kandidaten innerhalb von drei Tagen auf seine
Eignung hin ab. Allerdings geschieht dann letztlich die Auswahl durch die
Personalchefs weniger nach der Ausprägung der erhobenen Eigenschaften, als
vielmehr Attributionstheorie-logisch; der Personalchef weiss ja, wo welche
Führer erwartet werden, und versendet sie an die entsprechenden Stellen.
Von echter Situationsunabhängigkeit kann hier also keine Rede sein.