Das Papierkorbmodell
Geschwurbel von Daniel Schwamm (03/1994)
Inhalt
Das Papierkorbmodell von Cohen, March und Olsen soll erklären, wie
Mitglieder einer organisierten Anarchie in mehrdeutigen Situationen
Entscheidungen treffen. Es versucht dazu mittels eines Computerprogramms das
Wahlverhaltens in Organisationen zu simulieren. Eine organisierte Anarchie ist
dabei eine Organisation, die durch mindestens eine der folgenden drei
Eigenschaften gekennzeichnet ist:
-
Problematische Präferenzen: Es lassen sich in organisierten
Anarchien oft bestimmten Entscheidungssituationen keine klaren Präferenzen
zuweisen, weil hier eine unpräzisierte Zielmehrdeutigkeit vorliegen.
Anders als in der Theorie des Entscheidungsverhaltens bestimmen hier also nicht
Präferenzen das Handeln des Entscheidungsträgers, sondern die
Handlung des Entscheidungsträgers deckt erst dessen Präferenzen auf.
Mit anderen Worten: In organisierten Anarchien kann es passieren, dass
Entscheidungsträger Probleme bearbeiten, ohne bewusst-rationale und
präferenzgesteuerte Entscheidungen getroffen zu haben.
-
Unklare Technologie: Bei organisatorischen Anarchien existiert oft das
Phänomen, dass die Organisation funktioniert, aber keiner der
Entscheidungsträger erklären kann, warum sie funktioniert. Sie wird
nicht geplant, nicht rational gesteuert und die Entscheidungen, die auf
Probleme angewendet werden, sind Zufallsentdeckungen, Notlösungen oder
wurden im Trial-and-Error-Verfahren ermittelt. Mit anderen Worten: Obwohl die
organisatorische Anarchie oft unüberschaubar ist und keine rational
durchdachten Entscheidungsprozesse zulässt, kann sie über das
"unscharfe" Entscheidungsverhalten ihrer Mitglieder doch in nicht
nachvollziehbarer Weise am Leben erhalten werden.
-
Fluktuierende Partizipation: In organisatorischen Anarchien steht man
häufig vor dem Problem, dass ihre Entscheidungsträger
ständig wechseln, oder dass die Zeit, die sie auf die Lösung von
Problemen verwenden, variiert. Man kann sich also nicht darauf verlassen,
dass bestimmte Mitglieder mit bestimmten Kompetenzen bestimmte Probleme
bearbeiten - das macht die Anarchie daran aus. Die Entscheidungsträger
bekommen somit Gelegenheitscharakter, deren Aufmerksamkeit erst erregt werden
muss, damit sie aktiv werden.
Als Beispiel für organisierte Anarchien lassen sich bis zu einem
gewissen Grad alle Organisationen nennen, v.a. aber Verbrecherorganisationen,
Schulen oder Universitäten. Besonders den Universitäten wollen wir
unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Wie wir bereits gesehen haben, lassen sich in
organisierten Anarchien die üblichen Entscheidungsprozesse nicht
realisieren, um ein Problem zu lösen. Die Grundprozeduren der Manager
können hier nicht wirksam werden, da sie von wohldefinierten Zielen,
wohldefinierten Technologien und der vollständigen Verfügbarkeit der
Mitglieder ausgehen, d.h., die Managementtheorie muss bezüglich
organisierter Anarchien revidiert werden. Im Rahmen der verhaltensorientierten
Organisationstheorien ist dies bereits mit dem Papierkorbmodell geschehen. Es
berücksichtigt im besonderen Masse den Zeitfluss, den es
scheint so, als halten organisierte Anarchien geradezu Ausschau nach Problemen,
auf die sie bereits vorhandenen Lösungen anwenden können - das macht
die Entscheidungen der Entscheidungsträger zu einer zeitkritischen Sache.
Sehen wir uns einmal eine Universität mit den Augen des
Papierkorbmodells an. Eine Universität ist danach eine Ansammlung von
Auswahlmöglichkeiten, die nach Problemen suchen, von Sachverhalten, die
nach Entscheidungssituationen suchen, von Lösungen, die Sachverhalte
suchen, und von Entscheidungsträgern, die Arbeit suchen. Diese sogenannten
Ströme werden im Folgendem etwas genauer erläutert:
-
Auswahlmöglichkeiten: Das Auswählen alternativer Entscheidungen,
das von Organisationen in bestimmten Situationen erwartet wird. Diese Auswahl
wird angezeigt durch Vertragsunterzeichnungen, neue Personalbesetzungen, eine
Aufstockung des Abteilungsbudgets usw. Die Auswahlmöglichkeiten dienen nicht
nur der Lösung von Problemen, sondern sind oft auch mikropolitisch motiviert.
-
Probleme: Sind eine Angelegenheit von Entscheidungsträgern, da sie
deren Aufmerksamkeit erfordern. Sie berühren dadurch Dinge wie
Frustration, Karriere, Familie, Lebensstil usw. der
Entscheidungsträger.
-
Lösungen: Sind ein Produkt von irgendjemandem. Oft besitzt man die
Lösung für ein Problem, z.B. einen Computer, bevor man das
eigentliche Problem identifiziert hat. Daher muss man in organisierten
Anarchien häufig Probleme zu gegeben Lösungen suchen und nicht nur
Lösungen zu Problemen.
-
Entscheidungsträger: Kommen und gehen in einer organisierten Anarchie
im hohen Masse. Besonders auch ihre jeweilige Zuwendung zu einem
auftauchenden Problem variiert stark.
Fazit: Im Papierkorbmodell sind alle Entscheidungen als Interpretation von
den voneinander relativ unabhängiger Strömungen Auswahlmöglichkeiten, Probleme,
Lösungen und Entscheidungsträger zu verstehen.
Um das Papierkorbmodell im Computer simulieren zu können, müssen
zuerst seine Ströme als Variablen der Zeit gestaltet werden. Man
erhält also die vier Variablen Auswahl, Problem, Lösung und
Teilnehmer. Wie bereits erwähnt, liegen diese vier Variablen nur relativ
entkoppelt im Papierkorb vor. Anhand einiger Annahmen, die auf denen der
verhaltensorientierten Organisationstheorie beruhen, lassen sie sich verbinden.
Diese Annahmen sind im Einzelnen:
-
Annahme der Additivität von Energie: Die Auswahlenergie, die verschiedene
Entscheidungsträger einsetzten, um ein Problem zu lösen, summiert
sich zu einer Gesamtenergie, die - wenn sie hoch genug ist - das Problem
lösen kann.
-
Annahme der Allokation von Energie: Pro Zeiteinheit kann ein
Entscheidungsträger ein bestimmtes Mass an Energie zur Auswahl einer
Entscheidung einsetzen, die ein Problem lösen soll. I.d.R. wird er die
Auswahl treffen, deren Energie bereits so weit aufsummiert ist, dass sie
kurz vor der Entscheidung steht.
-
Annahme der Allokation von Problemen: Jedes Problem ist mit einer
Auswahl verbunden, d.h. um es zu lösen, muss eine Entscheidung getroffen
werden und andersherum: Durch die Auswahl trifft man eine Entscheidung, die
dann eventuell ein bestimmtes Problem lösen kann.
Auch die Organisationsstruktur ist relevant für das Papierkorbmodell,
denn auch sie wirkt sich auf seine Strömungen aus. Insbesondere das
zeitliche Zusammentreffen von Wahlen, Problemen, Lösungen und
Entscheidungsträgern wird durch die Organisationsstrukturen gesteuert.
Nach der Perspektive der verhaltensorientierten Organisationstheorie sind die
Strukturen einer Organisation - auch einer organisierten Anarchie (!) - das
Ergebnis menschlicher Entscheidungen, gehen also auf die Managementplanung, auf
Imitation oder auf das individuelle bzw. kollektive Lernen zurück.
Hinsichtlich der Organisationsstrukturen betrachten wir die folgenden
Variablen:
-
Eintrittszeiten für bestimmte Wahlmöglichkeiten: Sie werden per
Zufallsgenerator erzeugt. Je Zeiteinheit wird z.B. eine der Auswahlnummern
für ein Problem möglich, und zwar jeweils eine andere.
-
Eintrittszeiten für bestimmte Probleme: Auch sie werden per
Zufallsgenerator erzeugt. Jeweils zwei Probleme können zu einer
Zeiteinheit durch Auswahl von Entscheidungen in Angriff genommen werden.
-
Nettoenergieladung: Diese Variable gibt an, wie viel additive Energie pro
Zeiteinheit nötig ist, um ein Problem lösen zu können. Es gibt
sie in drei Ausprägungen: "0", "1" oder "2", d.h. das Problem erfordert
wenig, mittelmässig oder viel Auswahlenergie zur Lösung. Sind z.B. nur wenige
Lehrkräfte an einer Universität beschäftigt, so ist deren
Nettoenergieladung hoch.
-
Zugangsstruktur: Sie gibt an, welche Auswahl welches Problem bearbeiten
kann. Es gibt sie in drei Ausprägungen in Form von Matrizen: "0" oder "2",
d.h., das Problem kann von allen Auswahlmöglichkeiten oder nur von einer
Auswahlmöglichkeit bearbeitet werden. Die Ausprägung "1" bedeutet, dass das
wichtigste Problem (das mit der niedrigsten Nummer) Zugang zu allen
Auswahlmöglichkeiten hat, während das unwichtigste Problem nur Zugang zu
einer Auswahlmöglichkeit hat.
-
Entscheidungsstruktur: Sie gibt an, welcher Entscheidungsträger
welche Auswahl treffen kann. Es gilt: "0" bedeutet, dass jeder jede
Auswahl treffen kann. "1" bedeutet, dass hierarchisch Auswahlmöglichkeiten
getroffen werden müssen, d.h., dass der wichtigste Entscheider (mit der
niedrigsten Nummern) alle Auswahlmöglichkeiten treffen kann, während der
unwichtigste Entscheider nur eine Auswahl treffen darf. "2" bedeutet, dass
spezialisierte Auswahlmöglichkeit getroffen werden müssen, d.h. jeder Entscheider
kann jeweils ein eine andere Auswahl treffen.
-
Energieverteilung: Sie gibt an, welcher Entscheider wie viel Energie zur
Auswahl besitzt. Es gilt: "0" bedeutet wichtige Entscheider haben weniger Energie
als unwichtige Entscheider (vielleicht, weil diese ausserhalb der
organisierten Anarchie noch anderweitig beschäftigt sind), "1" bedeutet gleiche
Energie für jeden Entscheider und "2" das Gegenteil von "0".
-
Entscheidungsstil: Das Papierkorbmodell trifft Entscheidungen auf
dreierlei Art:
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Durch Lösung: Die Auswahl löst ein Problem.
-
Durch Übersehen: Die Entscheidungsträger können
schwierige Probleme lösen, so lange sich diese noch nicht an Entscheidungen
angeheftet haben. Die Entscheidung Frauen einzustellen, kann z.B. mit "Nein"
gelöst werden, so lange das Problem der Emanzipation übersehbar
-
Durch Flucht: Wenn ein Problem lange und erfolglos zu lösen
versucht wurde, dann wird es bisweilen dadurch gelöst, dass es zu
einer anderen Auswahl flieht. Das Problem, Frauen kürzere Arbeitszeiten
wegen ihrer Kinder zuzubilligen kann leicht mit "Nein" gelöst werden, wenn
dieses Problem zu dem neuen Problem flieht, wo auf dem Betriebsgelände
Kindergärten gebaut werden können.
Sehen wir uns nun einige Ergebnisse an, die die Computersimulation des
Papierkorbmodells hervorgebracht hat.
-
Anteil der Entscheidungen, die Probleme lösen, in Abhängigkeit
von der Zugangsstruktur: Dieser Anteil ist umso höher, je spezialisierter
die Zugangsstruktur ist. Sie ist auch umso höher, je weniger Energie
eingesetzt werden muss, um eine Auswahl zu treffen
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Anteil der Entscheidungen, die Probleme lösen, in Abhängigkeit
von ihrer Wichtigkeit und bei hierarchischer Zugangsstruktur: Dieser Anteil
ist am höchsten, wenn unwichtige Probleme möglichst früh auftreten.
Er ist am geringsten, wenn unwichtige Probleme erst sehr spät
auftreten.
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Es lässt sich beobachten, dass eine Erhöhung der Energie, die der Einzelne
zur Lösung von Problemen beisteuert, nicht zu einer vermehrten Lösung von
Problemen führt, wohl aber zu einem vermehrten Auswahlwechsel.
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Insgesamt werden in organisierten Anarchien relativ selten Probleme gelöst.
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Eine spezialisierte Zugangsstruktur reduziert die Zufälligkeit,
dass sich Probleme und Entscheidungsträger treffen. Jedoch sind
für andere Probleme gar keine oder nicht genug Entscheider zur Lösung
zugewiesen.