Das Werkzeug der Mathematik und wieso es entstanden ist
Geschwurbel von Daniel Schwamm (28.02.1992)
Inhalt
Bestimmt hat sich jeder Schüler im Laufe seiner Schulzeit
schon einmal aufseufzend gefragt, welcher Gedanke, welcher Wahnsinn, den
Menschen wohl dazu bewegt haben mochte, ein Werkzeug zu entwickeln, dass
so dermassen komplex und kompliziert war wie das der Mathematik. Aber so
war er nun einmal, der Homo faber, der Werkzeug- und Waffenmacher, der Mensch,
wie ihn die die Zeit der Frühindustrialisierung gezeichnet hatte, weil
der Maschinenbau als Kulturgut damals stark in den Mittelpunkt gerückt
worden war - vielleicht zu stark, denn die meisten anderen kulturellen
Errungenschaften versunkener Völker konnten durch Ausgrabungen ja gar
nicht mehr zutage gefördert werden.
Warum also entwickelten nun die Sumerer, Babylonier,
Ägypter, Griechen, Mayas, Inder und all die anderen Völker bereits
schon in der Morgendämmerung ihrer Kultur das Werkzeug der Mathematik?
Ging es da um so etwas Triviales und Elementares wie das
Zählenkönnen, um ein konkretes Mass für die
Grösse oder den Wert des eigenen Besitzes zu haben, um also das
Eigene vom Fremden abgrenzen zu können? Unwahrscheinlich. Denn das
Privateigentum ist eine kulturelle Errungenschaft, die mit Sicherheit ein
ganzes Stück jünger ist, als die des Zählenkönnens; die
meisten sogenannten Naturvölker, denen man ja bekannterweise eine sehr
ursprüngliche Lebensweise nachsagt, kennen bis zum heutigen Tag nichts
anderes als das Kollektiveigentum. Und zudem gilt: Um viel von wenig
unterscheiden zu können benötigt man nicht die Gabe des
Zählenkönnens, wie uns zahlreiche Beobachtungen im Tierreich lehren;
eine Ente mit sieben Jungen etwa bemerkt auch ohne grosse Zählkunst,
dass nur noch sechs Entchen hinter ihr herschwimmen, wenn eines
zufällig verloren gegangen ist.
Es bleibt hier also nur zu vermuten, dass der Wunsch des
Zählenkönnen nicht der einzige Grund für die Entwicklung der
Mathematik gewesen sein konnte. Die Menschheit musste dazu noch ganz
andere Gründe gehabt haben - und zwar schwerwiegendere Gründe. Oder
vielleicht doch nicht? War die Mathematik anfangs vielleicht nur ein Spiel
gewesen, eine Art Geistessport für Privilegierte, ein Tummelfeld für
die intellektuellen Elite? Oder hatten gerade eben jene mit ihrer Hilfe
versucht, ein System zu entwickeln, eine Ordnung aufzubauen, ein
immer-gültiges Modell der ihnen so unverständlichen Umwelt zu
schaffen?
Für spätere Zeiten traf dies gewiss zu. Aber
die alten Ägypter besassen diesen Ehrgeiz wohl noch nicht; ihr
dekadisches Zahlensystem, welches auf Individualzeichen fusste und sich
immerhin schon für Additionen, Bruchrechnungen mit Stammbrüchen, d.
h. Brüchen mit einer eins im Zähler, und Beinahe-Multiplikationen
eignete, war rein praxisorientiert und empirisch aufgebaut, also ohne
Ansprüche auf immer gültige Gesetzmässigkeiten in der Natur.
Und dieser pragmatische Zug der Mathematik findet sich auch noch bei den
Babyloniern wieder, deren 60er-Zahlensystem wir bis zum heutigen Tage die
Zeiteinheiten Stunden und Minuten zu verdanken haben, und die sogar bereits den
Satz des Pythagoras kannten, ohne Pythagoras allerdings kennen zu können,
da dieser das Licht der Welt noch lange nicht erblickt hatte.
Erst die Griechen waren dann von der Idee besessen gewesen,
die Mathematik zu einem erklärenden System zu machen. 624 vor Christus war
dort ein Mann auf den Plan getreten, der allgemein als Vater der griechischen
Mathematik angesehen wird: Thales aus Milet (gestorben 546 v.Chr.), ein Spekulant aus dem
Wirtschaftsleben. Doch erst der berühmte Pythagoras, etwa um die 528 vor
Christus, hatte den konsequenten Versuch unternommen, die Welt in all ihren
Erscheinungen durch die Mathematik erschliessbar zu machen: Zusammen mit
seiner revolutionären Schülergruppe hatte er damit
herumexperimentiert, die ganze Zahlen zur Basis des gesamten Universums zu
erheben. Ironischerweise war es dann aber ausgerechnet einer seiner
Schüler gewesen, der dabei erstmals auf die Existenz der irrationalen
Zahlen gestossen war. Ihm war nämlich aufgefallen, dass die
Länge einer Diagonalen, die man durch ein Quadrat von einem Meter
Seitenlänge legte, praktisch durch keine endliche Bruchzahl darzustellen
war - womit er natürlich dem Prinzip seines Meisters, dem der
Universalität der ganzen Zahlen, zwangsläufig den Wind aus den Segeln
nehmen musste, denn das hiess ja in Klartext nur, dass es schon
bei der Darstellung einer simplen Wurzel von zwei versagte (der Legende nach
soll diese Naseweisheit dem Schüler übrigens schlecht bekommen sein:
Man warf ihn in einen Fluss und ertränkte ihn!).
Um 428 vor Christus verbreitete dann hauptsächlich Platon
das Gedankengut des Pythagoras weiter. Ihm waren ebenfalls die Methode, die
funktionale Arbeitsweise der Mathematik wichtiger als ihr eigentlicher
praktischer Nutzen. In seinem Menon-Dialog lässt er daher seinen
grossen Lehrmeister Sokrates auftreten, der einem unbedarften Sklaven auf
sehr anschauliche Art und Weise nicht nur einfach erklärt, welche
Rechenschritte genau wie und wann nötig sind, um ein Quadrat
flächenmässig zu verdoppeln, sondern vor allem warum sie
nötig sind, was ihren logischen Wert, ihre Gesetzmässigkeit an
diesen Stellen ausmacht.
Ähnlich verhielt es sich auch bei jener griechischen
Rechenaufgabe, die als das Delische Problem durch eine Schrift des Eratosthenes
berühmt geworden ist: Die Verdopplung des Volumens eines Altars, zur
Besänftigung der Götter und Befreiung von der Pest. Diese mit Zirkel
und Lineal nicht zu lösende Aufgabe beschäftigte die Griechen
über Jahrhunderte hinweg und spornte sie zu mathematischen
Höchstleistungen an. Hippokrates von Chios (gestorben um 410 v.Chr.), der erste Berufsmathematiker der
Geschichte überhaupt, fand um die 430 vor Christus dann schliesslich
einen möglichen Lösungsweg - was um so bemerkenswerter war, da er
dazu die inzwischen wieder vergessenen irrationalen Zahlen nicht gebrauchte.
'Die Elemente', dass berühmteste Lehrbuch aller
Lehrbücher, wurde um die 300 vor Christus von Euklid verfasst, und
trieb wohl die Modellierung der Umwelt durch die Mathematik vorerst auf die
Spitze. Die darin von Euklid aufgeführten Axiome (die aber wahrscheinlich
auf Eudoxos von Knidos zurückgehen, um 340 v.Chr.) sind im Prinzip nicht viel mehr als einige -
bestenfalls empirisch erschlossene - Naturgesetze oder auch nur Annahmen, die
formal eigentlich nicht beweisbar sind. So zum Beispiel, dass die eins
eine natürliche Zahl ist, die selbst kein Nachfolger sein kann, dass
aber jede natürliche Zahl einen und nur einen Nachfolger hat, und so
weiter und so fort. Epochal daran ist nun, dass auf eben diesen wenigen
Mutmassungen, diesen nicht zu hinterfragenden Gesetzmässigkeiten
bis zum heutigen Tage die gesamte abendländische Mathematik fusst!
Alle anderen mathematischen Gesetzmässigkeiten, Differential- und
Integralrechnungen, kubische Gleichungen oder unendliche Reihen, die sich die
Menschen im Laufe der Jahrhunderte noch mühsam erschlossen haben, bauen
deduktiv auf diese euklidischen Axiomen auf.
Und damit sind sie nicht weniger als zu einem Teil der
absoluten Wahrheit geworden!
Doch bis dahin war es ein langer Weg gewesen. Und noch dazu
einer, der sich eher zufällig aufgetan hat, der ursprünglich
keineswegs so geplant war. Mathematik war nicht aus dem Wunsch heraus
entstanden, einen Funken göttlicher Erkenntnis erhaschen zu können.
Auch nicht für die Bearbeitung praktischer Probleme, wie sie beim Handel
oder bei der Architektur anfallen konnten. Auch nicht zum ganz einfachen
Zählen von Besitztümern oder Jagt-Tieren. Nein. Diese Dinge waren
eigentlich nur Abfallprodukte, Entartungen der eigentlichen Idee des Ganzen.
Wenn man Walter R. Fuchs und der gängigen wissenschaftlichen Meinung
glauben darf, dann entstand die Mathematik am Anfang jeglicher Kultur
hauptsächlich nur aus einem einzigen Grund - dem der
Religiosität!
Die Sterne waren es doch, die die Menschen seit jeher
fesselten. Denn dort oben war der Sitz der Götter. Von dort oben wurde
alles und jeder auf Erden gesteuert. Von dort oben kam gut oder böse,
Freude oder Mühsal, Regen oder Dürre. Und dort oben zeigte der Lauf
der Sterne all dies an, man musste ihn nur genau beobachten.
Jede Kultur auf Erden baute daher Observatorien
zur Erforschung des Weltalls, zur Beobachtung des Sternenhimmels. Denn dort oben
tat sich schliesslich was! Die Sterne bewegten sich, sie standen nicht
fest. Und den Menschen fiel noch mehr auf, vor allem, dass sich bestimmte
Sternenkonstellationen im Laufe der Zeit zyklisch wiederholten und das
bestimmte Ereignisse in ihrer Umwelt mit eben diesen wiederkehrenden
Himmelserscheinungen jedes Mal einher gingen. Eine ungeheuerliche Offenbarung
für die frühen Völker!
Heute weiss jedes Kind, dass nach einem Winter auch
wieder ein Sommer folgt, dass einmal die Sonne nur kurz am Himmel steht
und später wieder wesentlich länger, dass Ebbe und Flut durch
den Mond verursacht werden, Sternschnuppen nur verglühende Meteoriten sind
und bei einer Sonnenfinsternis keine riesige Schlange die Sonne auffrisst.
Wir wissen sogar, wann diese Dinge passieren. Auf den Tag, die Stunde oder die
Minuten genau. Oder, wie im Falle einer Sonnenfinsternis, gar auf die Sekunde
genau. Das funktioniert über gigantische Zeiträume hinweg. In einem
Planetarium könnte man sich zum Beispiel problemlos den Sternenhimmel
zeigen lassen, wie er in einigen Millionen Jahren aussehen wird. Oder vor
einigen Millionen Jahren ausgesehen hat.
Und genau das ist der Verdienst der Mathematik. Dafür
wurde sie geschaffen. Das eigentliche Werk dieses Werkzeugs ist nichts anderes
als Ereignisse am Himmel noch vor ihrer realen Erscheinung berechnen zu
können! Die Entwicklung der Mathematik wird damit auch unmittelbar
verständlich. Denn man muss sich einmal überlegen, was es wohl
für die damaligen Völker bedeutet haben muss, durch die einfache
Registrierung wiederholter Sternenkonstellationen gewissermassen in die
Zukunft blicken zu können. Das hiess doch, schon vor dem ersten
Schnee eine sicheren Bau gefunden, noch vor der langen Dürrezeit
Essensvorräte angesammelt und vor der anrückenden Flut sicheres Land
erreicht zu haben. Zeitliche Abläufe wurden erstmals fassbar. Die
Folge: Der Mensch emanzipierte sich, er wurde unabhängiger von der Natur.
Die Götter regierten zwar noch immer, doch da sie ihren Willen durch die
Sterne Kund taten, konnte man sich schon vorher darauf einstellen und sie durch
Opfer zu besänftigen suchen. Alles, was dazu nötig war, war ein
Kalender.
Und um einen solchen Kalender zu erstellen, musste der
Mensch das Zählen lernen! Der erste und wichtigste Schritt zur Erstellung der
Mathematik war damit getan.
Natürlich hilft das dem geplagten Schüler heute
wenig. Er wird wohl trotz diesen Wissens noch immer an den Schwierigkeiten der
Mathematik verzweifeln, denn leichter ist sie dadurch natürlich nicht
geworden. Aber wenn er dann irgendwann in einer klaren Nacht zum Himmel empor
blickt und die Sterne über sich sieht, ihre Schönheit, ihre magische
Anziehungskraft in sich aufsaugt, in diese geheimnisvolle Unendlichkeit
hinein starrt, die jetzt und zu allen Zeiten Tankstelle für die
menschlichen Phantasie war und ist und bleiben wird, ja, dann wird er die
Menschheit, die Träumer, Poeten und Science-Fiction-Autoren vielleicht ein
ganz klein wenig besser verstehen können ...